von account
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21 Okt., 2022
Für uns Epilepsiepatienten sind viele Dinge Normalität die für andere Menschen teils undenkbar sind. Uns fehlen häufig Dinge, die wir nicht tun dürfen, sollten oder können, wir hadern auch manchmal damit oder sind traurig, aber größtenteils haben wir uns damit arrangiert und unsere Wege gefunden. Was aber nicht heißt dass ein einmal eingeschlagener Weg oder ein eingefahrenes Arrangement unveränderbar sein muss. Mir wurde erst kürzlich wieder schmerzlich bewusst, welch enormer Unterschied eine einzige Sache in unserem Leben machen kann. Einen Unterschied, den ich nach 20 Jahren schlicht vergessen hatte. Knapp zwei Monate ist es her, da bekam mein Vater eine TIA und ein darauffolgendes Fahrverbot. Dieselbe Diagnose wie ich vor knapp einem Jahr. Als ich daraufhin ein Fahrverbot ausgesprochen bekam, konnte ich nur müde lächeln – dank meiner Anfälle kenne ich es schließlich nicht mehr anders. Als mein Vater dieses Verbot ausgesprochen bekam, brach dagegen erst einmal eine Welt zusammen. Verständlich. Aber um der Wahrheit die Ehre zu geben, ich war zutiefst verwundert über diese Reaktion. In meinen Augen haben meine Eltern nicht nur an meinem Beispiel gesehen dass eine neurologische Erkrankung diese Maßnahme häufig nach sich zieht. Mein Vater ist auch schon 81 Jahre alt und man muss in diesem Alter einfach damit rechnen dass man physisch irgendwann nicht mehr in der Lage sein könnte Auto zu fahren. Ich, in meiner Situation, hatte in diesem Fall Schwierigkeiten Empathie zu zeigen. Bis zu diesem Alter Auto fahren dürfen – das wäre ein Traum für mich gewesen. 50 Jahre mehr Unabhängigkeit hätte dies für mich bedeutet. Darf man sich da noch beschweren? Natürlich darf man. Wahrscheinlich muss man sich sogar beschweren, um dies zu verarbeiten. Ich wollte es trotzdem nicht hören. So egoistisch mein Gedanke auch war, gab er mir doch einen neuen Impuls. Mir wurde erneut klar, wieviel Last wir meinem Mann aufbürden. Größere Einkäufe, Arztbesuche außerhalb der Reichweite des Nahverkehrs, Tierarztbesuche, meine Vorträge usw. Für all dies spielt mein Mann seit 20 Jahren den Chauffeur. Nun kamen auch noch meine Eltern und teils seine Mutter hinzu. All das, neben dem Beruf und unseren süßen Enkeln zu stemmen, war einfach zu viel. Er war mittlerweile schlicht am Limit. Es musste sich etwas ändern, das war schnell klar. Die Lösung stand mir durch meine Tochter und Freunde schon lange vor den Augen, wirklich realisiert habe ich es nicht. Ein Fahrrad wäre eine Lösung für die meisten dieser Fahrten, aber ich hatte seit meinem schweren Sturz damals nicht nur Epilepsie im Gepäck, sondern auch eine tiefsitzende Angst vor Höhen, Geschwindigkeit und Stürzen. Dass ich auf einem Fahrrad auch Rückenschmerzen bekomme, war die perfekte Ausrede um es nicht einmal zu versuchen. Bis zu dem Tag als meine Tochter mich auf ihr E-Bike setzte und mein Enkel mich erwartungsvoll anstrahlte. Ich spüre meine komplex fokalen Anfälle vor Beginn, kenne meine Auslöser und bin immer in der Lage früh genug zu reagieren. Bei der Abgeschiedenheit ihres Hauses fehlte mir auch diesbezüglich jegliche Ausrede und so wagte ich meine erste todesmutige Fahrt. Zuerst nur einige Meter, dann immer ein wenig mehr und endlich wagte ich meine erste richtige Fahrt bis zum Ort. Meine Tochter lebt in den Bergen, dadurch war die Aussicht so atemberaubend, dass ich meine Angst völlig vergaß. Der Kleine saß hinten im Hänger und juchzte, mein Mann und Tochter begleiteten mich mit ihren Fahrrädern. Und es stimmt – man verlernt nichts. Es war, als hätte ich nie aufgehört Rad zu fahren. Das war der Auslöser für einen Gedanken der in meinem Kopf reifte. Ich musste meine Angst besiegen. Meine Familie hatte mir bereits vier Monate eher einen Ausflug mit einem Lift geschenkt. Zitternd und anschließend weinend, aber auch ein bisschen stolz hatte ich die Fahrt auf den Alpstein gewagt. Daran wollte ich anknüpfen. Zwei Wochen später war ich mit meinen drei Freundinnen in bayrischen Oberaudorf. Zuerst wagte ich mich in einen Sessellift, dann in eine Sommer-Rodelbahn, um anschließend mit dem „Oberaudorfer Flieger“ den Berg zu bewältigen. Mein Trick dabei war: Keine Wartezeiten für größere Herausforderungen. Wenn ich mich entschlossen hatte, musste ich es sofort umsetzen. Nicht nachdenken, keinen Foto herauskramen, nicht stehen bleiben. Und vor allem nicht nach unten sehen. Kurz darauf waren wir wieder in der Schweiz bei unserer Tochter und ich fuhr zum ersten mal alleine die Serpentinen mit dem Fahrrad herunter. Hätte mich tags darauf Corona nicht erwischt, wäre ich täglich gefahren, doch diese langsame Steigerung war mir nicht vergönnt. Keine zwei Wochen später bekam ich die Gelegenheit eine schnelle Steigerung zu erreichen. Mittlerweile hatte ich mir bereits ein E-Bike gekauft, aber gefahren hatte ich es noch nicht. Mir fehlte noch das letzte Quentchen Mut, der zündende Funke um auch innerhalb von Ortschaften zu fahren. Doch der sollte ganz schnell kommen. Auf einer Veranstaltung stand ich mit Sohn, Mann und zwei meiner Enkelchen vor einem Feuerwehrauto mit Drehleiter. Der Feuerwehrmann rief „wenn Ihr noch mitfahren wollt, dann rein in den Korb, ich muss gleich weg. Es war eine Sekundenentscheidung. Nicht nachdenken, nicht zögern, tun! Bevor ich wirklich realisierte was ich dort tat, stand ich mit meinem Sohn im Korb der Drehleiter und hob ab. Diesmal schaute ich herunter – aber erst als der Korb ganz oben war. Ich war entsetzt. 30 Meter seien es gewesen, erzählte mein Mann mir später. Nun ja, da darf man auch mal entsetzt sein. Aber ich war auch glücklich. Nach diesem Erlebnis wusste ich dass ich weitermachen muss, wenn ich diese Angst jemals besiegen will. Oder anders gesagt, wenn ich wieder frei sein will. Vor allem wusste ich dass ich es auch kann. Ich darf meinem Schweinehund keinen Raum lassen, muss meine Chancen sehen und sie nutzen. Dann war es endlich soweit und ich habe diese Chance genutzt. Euphorisch, glücklich, aber anfangs auch nervös. Ich bin mit meinem Fahrrad in den Nachbarort einkaufen gefahren. Lächerlich, wenn man das so liest, ich weiß. Aber für mich war es ein Meilenstein. Ohne Mann und Chauffeur kam ich vollbepackt nach Hause. Mir fällt es schwer zu beschreiben wie dieses Gefühl war. Alleine loszufahren, alleine das Ziel auszusuchen und mittendrin spontan einen anderen Weg zu nehmen, war für sich alleine genommen schon die maximale Freiheit für mich. Dann noch alleine die Einkaufstaschen voll zu packen, um dann auch wieder alleine nach Hause zu fahren. Natürlich liebe ich meinen Mann mehr als ich sagen kann. Ich liebe es auch mit ihm unterwegs zu sein und wir haben selbst beim einkaufen Spaß. Und doch hatte ich vergessen wie es ist so frei zu sein auch mal etwas alleine dort tun zu können, wo ich ohne Auto nicht hinkomme. Nicht weil ich es muss, sondern weil ich es kann! Ich war in diesem Moment frei in meinen Entscheidungen und frei in meinen Aktionen! Und das wichtigste: ich war völlig frei von Angst! Ich habe zwar hier und da natürlich den Anflug eines Gedankens an den Sturz vor 20 Jahren gehabt, der Moment als ich abhob und mich mehrfach überschlug war wieder präsent und auch der anschließende Schmerz schob sich immer wieder kurz in mein Bewusstsein. Aber es löste keine Angst mehr aus. Vorsicht ja, eine besonders aufmerksame Fahrweise auch, aber die große lähmende Angst war bei dieser Fahrt verschwunden. Das verrückteste ist wohl, dass ich nicht eine Sekunde daran dachte einen Anfall zu bekommen. Ich denke auch nicht dass ich das brauche. Meine Anfälle kommen in Entspannungsmomenten oder wenn es mir nicht gut geht und davon war dieser Ausflug in die Freiheit, auf ganz wunderbare und positive Weise, weit entfernt. Ich wünsche Euch, dass auch Ihr Euch ein Stückchen Freiheit (zurück)erobern könnt oder vielleicht schon wiedergefunden habt. In welcher Form auch immer, Hauptsache es macht Euch glücklich. Ich bin auf jeden Fall sehr dankbar dafür und hoffe, dass ich mir das auch immer bewahren kann.